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Eine gestalttherapeutische Annäherung an Scham und Selbstgerechtigkeit: Theorie und Methoden

Originaltext: Erskine, R.G. (2015). A Gestalt therapy approach to shame and self-righteousness: theory and methods. In: Relational Patterns, Therapeutic Presence. Kap. 11. S. 173-193. London: Karnac.

Übersetzung: Adelheid Kühn

Vor einigen Jahren rief mich ein Kollege an und begann das Gespräch, indem er mein Verhalten kritisierte und meine Beweggründe als pathologisch bezeichnete. Obwohl ich mich entschuldigte, die Situation zu erklären versuchte und mich bemühte, das Problem schriftlich richtig zu stellen, endete die vormals herzliche und respektvolle Beziehung zu diesem Kollegen in einem Kommunikationsschwund.

Bei jedem nachfolgenden Versuch, mit diesem Kollegen zu sprechen, verhaspelte ich mich bei meinen eigenen Worten, erlebte mich als unbeholfen und vermied über meine Gefühle und unsere Beziehung zu sprechen. Die Erfahrung, von einem Kollegen beschämt worden zu sein, den ich schätzte, löste bei mir eine lähmende Scham aus. Ich wünschte mir eine Wiederaufnahme der Verbindung mit dem Kollegen. Ich wünschte mir, dass er sich nach meinen Gefühlen und dem fehlenden zwischenmenschlichen Kontakt erkundigt, dass er meinen Stress erkennt und empathisch und Bezug nehmend auf die beschämende Erfahrung reagiert, die ich beim ersten Telefongespräch hatte.

Das Schamgefühl und die Sehnsucht nach Wiederaufnahme der Beziehung zwangen mich, meine eigenen inneren Reaktionen auf die Beschämung zu untersuchen. In einer psychotherapeutischen Sitzung als Klient erlebte ich erneut, wie ich mich als kleiner Junge von sieben oder acht Jahren, schmerz- und angsterfüllt an einen sehr kritischen Lehrer anpasste. Mein persönlicher Gewinn der Psychotherapie war ein inneres Zufriedenheitsgefühl und dass ich mich auf die Verletzlichkeit von anderen und mir zurückbesann.

Mein beruflicher Gewinn durch das Auflösen meiner eigenen Scham war eine Weiterentwicklung der therapeutischen Methoden und Interaktionen in meiner klinischen Praxis. Ich war mit verschiedenen Fragen konfrontiert: Wie und wann schreibe ich einer Person etwas zu? Unterstelle ich jemand einen Beweggrund, statt diese Person beim Verstehen ihres Verhaltens zu unterstützen? Welche Auswirkung hat mein Gefühl oder Verhalten auf die andere Person? Unterstelle ich dem Klienten „Mit Dir stimmt etwas nicht!“ in meinem Versuch, therapeutisch wirksam zu sein?

Scham und Selbstgerechtigkeit sind schützende Dynamiken, um die Verletzlichkeit gegenüber Beschämung und Kontaktverlust in einer Beziehung mit anderen zu vermeiden. Wenn die Beziehung zu einer anderen Person durch kritische Beurteilung, Verhöhnung, Beschuldigung, Zuschreibung, Ignorieren oder andere beschämende Verhaltensweisen verunreinigt wird, ist das Ergebnis eine erhöhte Verletzlichkeit in dieser Beziehung. Der Bindungskontakt ist abgebrochen. Scham und Selbstgerechtigkeit resultieren aus Beschämung, Blamage oder Vorwürfen und einem Verlust des Selbstwertgefühls.

Scham und Selbstgerechtigkeit sind die Abwehrmechanismen, die eingesetzt werden, um die Intensität der Erfahrung, wie verletzlich und machtlos ein Individuum gegenüber Beziehungsverlust ist, zu vermeiden. Gleichzeitig ist Scham der Ausdruck einer unbewussten Hoffnung, die andere Person möge Verantwortung für die Reparatur der Beziehungsunterbrechung übernehmen. Selbstgerechtigkeit beinhaltet das Abstreiten des Bedürfnisses nach Beziehung.

Die theoretischen Ideen über Scham und abwehrende Selbstgerechtigkeit und die klinischen Interventionen, die in diesem Artikel vorgestellt werden, sind das Ergebnis mehrerer Jahre der Erforschung meiner Fehlschläge als Therapeut, der Brüche in therapeutischen Beziehungen zu meinen Klienten, die ich verursacht habe und der therapeutischen Methoden, welche das Schamgefühl von Klienten verstärkten. Ein respektvolles Erfragen, wie ein Klient unseren therapeutischen Dialog Transaktion-für-Transaktion phänomenologisch erlebt, erbrachte eine Offenlegung meiner empa-thischen Misserfolge, Fehlwahrnehmungen des Entwicklungsstandes und emotio-nalen Fehleinstimmungen – den Kontaktunterbrechungen in der Beziehung. Wenn ich die Verantwortung für die Brüche in der therapeutischen Beziehung übernehme , konzentriert sich meine Therapie auf die Einstimmung auf die emotionalen Erfahrungen des Klienten und deren Beantwortung mit einem passenden Gefühl. Mein therapeutisches Engagement besteht in meiner Beständigkeit, Verant-wortlichkeit und Verlässlichkeit. Bei der Erkundung und Auflösung der Brüche in unserer Beziehung kann ich am effektivsten die wesentlichen Skriptglaubenssätze aufdecken, welche die zwischenmenschlichen Erfahrungen im Leben meines Klienten maßgeblich bestimmen (Erskine & Moursund, 1988).

Konfrontation, ein Schwerpunkt auf starkem Gefühlsausdruck oder übermäßigem Wert auf Aggression oder eine Betonung nur des „Hier-und-Jetzt“ verstärkt die Wahr-scheinlichkeit, dass ein Klient sich in der Psychotherapie beschämt fühlt. Fritz Perls beschrieb seine Konfrontationstherapie als „den Klienten beibringen, ihren eigenen Arsch zu wischen“ (Perls, 1967). Folgerichtig wurde Gestalttherapie nachgesagt, dass sie das Verhalten der Klienten als „unecht“, „unverantwortlich“ oder „kindisch“ bewertet.

Jemanden etwas zuschreiben oder ihn zu konfrontieren, könnte ihn entwerten oder beschämen, selbst wenn es zutreffend ist. Jemand aufrichtig nach seiner Erfahrung, seinem Beweggrund, seiner Selbst-Definition und der Bedeutung seines Verhaltens für ihn zu befragen, vermeidet eine mögliche Beschämung. Einfühlsam und passend zu antworten, befähigt die Person, ihre Gefühle, Wahrnehmungen, Gedanken und Talente vollständig auszudrücken. Respektvolles Erfragen, emotionale Einstimmung und Engagement – Methoden einer kontaktvollen, beziehungsbasierten Gestaltthera-pie – laden den Klienten zur Selbst-Entdeckung der zugrundeliegenden Bedeutung und unbewussten Motivation seiner Erfahrungen ein und ermöglichen einen zwischenmenschlichen Kontakt, der die Integrität und das Selbstgefühl des Klienten wertschätzt.

Perspektiven der Gestalttherapie

In der Gestalttherapie-Literatur bekam das Phänomen der Scham wenig Aufmerk-samkeit, weder als theoretisches Thema noch als Feld des therapeutischen Interesses. Yontef (1993) beschreibt eine gestalttherapeutische Perspektive von Scham und die Verwendung eines dialogischen Zugangs in der Psychotherapie. Evans (1994) postuliert die Gestalttherapie der Scham als Brüche in Beziehungen behebend. Wheelers (1991) Beschreibung eines klinischen Falles erfasst die Bedeut-samkeit der Scham. Lee und Wheeler bieten in ihrer Sammlung von Artikeln über Gestalttherapie „The Voice of Shame“ (1996) ein breites Spektrum des Verständ-nisses über die Psychotherapie der Scham an. Lynne Jacobs (1996) beschreibt die Rolle von Scham und Gerechtigkeit als eine Abwehr gegen die Scham, die im therapeutischen Dialog bei Klient und Therapeut aufkommt. Dem Thema der Selbst-gerechtigkeit kam keine Aufmerksamkeit zu, weder theoretisch noch methodologisch.

Klinische Praxis und theoretische Entwicklung ziehen und schieben sich gegenseitig in ihrem Entstehungsprozess. Klinische Interventionen, die Respekt, den therapeu-tischen Dialog einer Ich-Du-Beziehung, Erfragung, Einstimmung und Engagement nutzen, haben deutlich gemacht, dass Scham und selbstschützende Fantasien im Leben vieler Klienten vorherrschend sind. Diese Phänomene waren in der gestalt-therapeutischen Theorie nicht etabliert. Meine klinische Erfahrung half mir, ein theoretisches Verständnis zu entwickeln, das Scham und Selbstgerechtigkeit als Ergebnis introjizierter Scham und früher fixierter Gestalten ansieht, die vor Vorwürfen, Demütigung und dem Verlust von zwischenmenschlichem Kontakt bewahren. Sowohl unbewältigte frühere Scham als auch introjizierte Scham potenzieren den Schmerz jeder aktuellen Kritik, indem sie eine Toxizität hinzufügen, welche die aktuelle Demütigung mit lähmender Scham oder abwehrender Selbstgerechtigkeit überflutet.

Scham: Eine theoretische Klärung

Die Formulierung einer gestalttherapeutischen Theorie über Scham und Selbstge-rechtigkeit erfordert, dass das Phänomen in eine Theorie über Kontakt und Gestalt-ausbildung und –fixierung integriert wird. Um ein Verständnis dafür zu bewirken, wie die Phänomene Scham und Selbstgerechtigkeit sich äußern, ist es notwendig, das Konzept von Es-, Ich- und Persönlichkeitsfunktion auf das Selbst [1] und die Konzepte von Kontaktunterbrechung, speziell Introjektion [unreflektierte Aufnahme] [2], Retroflektion [sich das antun, was man jemand anderem antun möchte] und Konfluenz [Verschmelzung; fehlende Subjekt-Objekt-Grenze] zu verwenden. Auch viele andere Unterbrechungen des internen und externen Kontaktes werden bei Scham und Selbstgerechtigkeit aktiviert (Perls, Hefferline & Goodman, 1951).

Bei der Einführung einer gestalttherapeutischen Theorie, welche die Phänomene Scham und Selbstgerechtigkeit beschreibt, werden die Begriffe Beschämung und demütigende Transaktionen verwendet, um sich auf Interaktionen zwischen Men-schen zu beziehen, bei denen eine Person durch eine andere erniedrigt, kritisiert, angeschuldigt oder ignoriert wird. Die Begriffe Scham und Selbstgerechtigkeit beziehen sich auf die intrapsychischen Dynamiken, eines Individuums, das Intro-jektionen, Konfluenz oder früh fixierte Abwehrsysteme (Retroflektion, Projektion, Deflektion [Abwendung vom eigenen Bedürfnis] etc.) einsetzt. Wenn das Schamgefühl fixiert wurde, repräsentiert es einen intra-psychischen Konflikt zwischen dem einflussreichen Introjekt einer anderen Person und einer abgewehrten, konfluenten früheren Fixierung: Ein Kind, das sich nach Beziehung sehnte. Die Fixierung bezieht sich auf ein relativ dauerhaftes Organisationsmuster von Denken, Fühlen oder Verhalten auf einem früheren Entwicklungsstadium, welches bis ins spätere Leben besteht und dieses beherrschen kann. Es ist die fixierte Abwehr, welche den Mangel an vollständigem Kontakt aufrechterhält. Sie überlagert sich mit den früheren Erfah-rungen, die im Hier-und-Jetzt und im vollständigen Kontakt mit dem Selbstgefühl integriert werden sollen (Erskine & Moursund, 1988).

Scham ist ein selbstschützender Prozess, der eingesetzt wird, um Gefühle zu ver-meiden, die durch Beschämung und Verletzlichkeit aufgrund des Kontaktverlustes zu einer anderen Person entstehen. Wenn Kinder, und sogar Erwachsene, von bedeut-samen Anderen kritisiert, entwertet oder beschämt werden, produziert das Bedürfnis nach zwischenmenschlichem Kontakt und die Verletzlichkeit beim Aufrechterhalten der Beziehung, ein selbstschützendes, abwehrendes Gefühl. Diese verschmilzt mit den eingeprägten, herabsetzenden Zuschreibungen. Ein Schamgefühl entsteht. Scham ist ein komplexer Prozess, der zur Folge hat:

1) herabgesetztes Selbstkonzept

2) Absenkung des Selbstwertes verschmolzen mit externer Beschämung und/oder im Vorfeld introjizierter Kritik

3) abwehrende Umwandlung von Traurigkeit und Angst

4) Verleugnung und Gegen-sich-selbst-Wendung von Ärger

Scham verwendet Verleugnung und Gegen-sich-selbst-Wendung von Ärger, um den Anschein einer verbundenen Beziehung mit der Person aufrechtzuerhalten, welche demütigende Handlungen durchführte. Wenn Ärger verleugnet und gegen sich selbst gerichtet wird, geht ein wertvoller Teil des Selbst verloren, das Bedürfnis ernst-genommen und respektvoll behandelt zu werden und einen Einfluss auf die andere Person zu haben. Der eigene Selbstwert ist herabgesetzt, weil sowohl Es- als auch Ich-Funktionen des Selbst unterbrochen sind. Scham beinhaltet auch die Umwandlung der Gefühle Traurigkeit und Angst: Die Traurigkeit, nicht akzeptiert zu werden, wie man ist, mit seinen eigenen Trieben, Wünschen, Bedürfnissen, Gefühlen und Verhaltens-weisen. Und die Angst vor der Zurückweisung in der Beziehung aufgrund dessen, wer man ist. Die Angst und der Verlust eines Selbstaspekts (Ver-leugnung und Retroflektion von Ärger) befeuern den Anpassungsdruck, das Herab-setzen des Selbstwertes, um Übereinstimmung mit der Kritik und/oder der Beschämung herzustellen.

Die Verschmelzung mit der Beschämung, die Umwandlung von Angst und Traurigkeit und die Verleugnung von Ärger produzieren ein Gefühl von Scham und Zweifel, wie es von Erikson (1950) beschrieben wurde. Aus einer feministischen Perspektive über beziehungsorientierte Therapie schreibend, bestätigen sowohl Miller (1987) als auch Jordan (1989) diese Erklärung, indem sie Scham mit dem Verlust menschlicher Verbindung verknüpfen. Als Wichtigstes aber ist Scham ein empfundenes Gefühl des Unwertseins in Verbindung zu sein, ein tiefes Gefühl, nicht liebenswert zu sein, mit einer andauernden Bewusstheit, wie sehr man mit anderen verbunden sein möchte. Obwohl Scham ein extremes Selbstbewusstsein beinhaltet, signalisiert sie gleichzeitig ein starkes Verlangen nach Beziehung.

Auch Kaufman drückt aus, dass Scham das Bedürfnis nach Beziehung widerspiegelt. „In der Mitte der Scham gibt es ein ambivalentes Verlangen nach Wiedervereinigung mit demjenigen, der uns beschämte“ (1989, S. 19). Scham ist der Ausdruck einer unbewussten Hoffnung, dass der andere die Verantwortung dafür übernimmt, die Beziehungsunterbrechung zu reparieren.

Tomkins (1963) sagte, dass Scham das auftretende Gefühl ist, wenn ein Verlust der Würde, eine Niederlage, ein Übergriff oder eine Entfremdung vorliegen. Er setzte voraus, dass Scham ein Gefühl ist, das sich in Natur und Funktion von den anderen acht Gefühlen seines theoretischen Schemas unterscheidet. Das Gefühl der Scham dient nach Tomkins (Nathanson, 1992) als ein Generator oder Hindernis für andere Gefühle – eine abwehrende Deckschicht für Freude und Interesse. Tomkins‘ (1962, 1963) Ideen entsprechen Fraibergs (1982) Beobachtungen der Entstehung psycholo-gischer Abwehr bei Kindern. Sie beschrieb den Prozess der „Gefühlsumwandlung“ (S. 71), wobei ein Gefühl durch ein anderes ersetzt oder zu einem anderen abge-ändert wird, wenn das ursprüngliche Gefühl es nicht schafft, den notwendigen Kontakt zwischen dem Kind und seiner Bezugsperson herzustellen (manchmal schon ab dem neunten Lebensmonat). Wenn das Kind beschämt wird, wird die Angst vor Beziehungsverlust und die Traurigkeit, nicht akzeptiert zu werden, in das Gefühl der Scham umgewandelt. Scham setzt sich zusammen aus Traurigkeit, Angst, Verleug-nung und Gegen-sich-Wendung von Ärger, und einem herabgesetzten Selbst-konzept, vermischt mit der aktuellen Beschämung.

Diese Vermischung mit Beschämung sichert den Anschein einer fortgesetzten Beziehung und ist paradoxerweise gleichzeitig eine Abwehr. Das selbstschützende Herabsetzen des Wertes ist bei wilden Tieren beobachtbar, wenn ein Tier in Anwesenheit eines anderen kriecht, um eine Attacke zu vermeiden und dessen Akzeptanz zu garantieren. Es ist selbstschützend, den eigenen Status herabzu-setzen, um Aggressionen vorzubeugen, wenn ein Dominanzkampf auftreten könnte. Das herabgesetzte Selbstkonzept oder die Selbstkritik, die Teil der Scham sind, verringern den Schmerz der Beziehungsunterbrechung, während sie gleichzeitig den Anschein einer Beziehung aufrechterhalten. Der oft zitierte Spruch des Boxtrainers „Schlag ihn dahin, wo es wehtut!“, beschreibt die Funktion von herabgesetztem Selbstwert und Selbstkritik, eine Abwehr gegen mögliche Beschämung anderer. Jedoch richtet sich dieser Faustschlag gegen einen selbst in Form von verringertem Selbstwert.

Die abwehrende Fantasie

Als normalen Entwicklungsprozess setzen junge Kinder oft Fantasie ein, um Kontrolle, Struktur, Pflege oder was auch immer als fehlend oder unangemessen empfunden wurde, selbst bereitzustellen. Die Funktion der Fantasie kann sein, das Verhalten zu strukturieren als Schutz vor Konsequenzen oder Liebe und Fürsorge bereit zu stellen, wenn die realen Pflegepersonen kalt, abwesend oder miss-brauchend sind. Die Fantasie dient als Puffer zwischen den tatsächlichen Elternfiguren und den Wünschen, Bedürfnissen oder Gefühlen des jungen Kindes. In Familien oder Situationen, wo es notwendig war, die Bewusstheit von Bedürfnissen, Gefühlen und Erinnerungen zu unterdrücken, um zu überleben oder akzeptiert zu sein, kann die selbstentworfene Fantasie fixiert sein und nicht mit späterem Entwicklungslernen integriert werden. Mit der Zeit funktioniert die Fantasie als „Umkehrung“ der Aggression: Die Kritik, Entwertung und Beschämung, denen das Kind ausgesetzt war, werden verstärkt und als Selbstkritik oder Selbstdemütigung gegen das Selbst gerichtet (Retroflektion). Solche schambasierten Fantasien dienen der Aufrechterhaltung der Illusion der Bindung an eine fürsorgliche Beziehung, wenn die tatsächliche Beziehung durch Beschämung unterbrochen wurde (eine Unterbrechung der Es-Funktion des Selbst).

Viele Klienten berichten ein beständiges Schamgefühl begleitet von herabsetzender Selbstkritik. Sie stellen sich wiederholt beschämendes Versagen bezüglich Leistung oder Beziehung vor. In der Fantasie verstärken sie die Verschmelzung zwischen der introjizierten Kritik und der Beschämung, während sie die Erinnerung an die ursprüng-liche Traurigkeit des Nicht-Akzeptiert-Seins wie sie waren und an die Angst vor der Zurückweisung aufgrund dessen, wer sie waren, abwehren. Wenn gefühlsgeladene Erinnerungen traumatischer Beschämung abwehrend unterdrückt werden, können sie im Bewusstsein als Fantasien zukünftigen Versagens oder künftiger Herabsetzung auftreten – solche Voraussicht ist kann eigentlich Zurücksicht sein. Die Selbstkritik und Fantasie beschämenden Versagens dienen als zwei zusätzliche Funktionen, um die Verleugnung des Ärgers aufrecht zu erhalten (eine Unterbrechung der Es-Funktion des Selbst) und um gegen den Schock einer möglichen künftigen Kritik oder Herabsetzung zu schützen (eine Unterbrechung des Kontakts in der Vorkontakt-Phase [3]).

Selbstgerechtigkeit: Eine doppelte Abwehr

Selbstgerechtigkeit dient einer noch aufwendigeren Funktion als die abwehrenden Aspekte der Scham. Selbstgerechtigkeit ist eine selbst-generierte Fantasie (die sich manchmal in offenen Transaktionen zeigt), die vor dem Schmerz des Beziehungs-verlustes schützt und gleichzeitig einen Pseudo-Triumpf über die Beschämung und eine Aufblähung des Selbstwertes zur Verfügung stellt. Während Scham und selbst-kritisierende Fantasien eine Person entwerten und sich nach der Reparatur der Beziehung sehnend zurücklassen, sind selbstgerechte Fantasien der verzweifelte Versuch, der Beschämung zu entkommen und sich von der Scham zu befreien, indem man sich rechtfertigt. Selbstgerechtigkeit ist:

1) Abwehr gegen die Traurigkeit und Angst der Beschämung

2) Ausdruck des Bedürfnisses, einen Einfluss zu haben, ernst genommen und respektvoll behandelt zu werden (eine teilweise Rücknahme des verleugneten und retroflektierten Ärgers)

3) Abwehr gegen das Bewusstwerden des Bedürfnisses, der andere möge die unterbrochene Beziehung wieder reparieren

Eine Person steigert in ihrer Fantasie den eigenen Wert, indem sie Fehler bei anderen findet und dann das Bewusstsein für ihr Bedürfnis nach anderen unterdrückt. Das Selbst wird als überlegen erlebt. Wie Alfred Adler beschrieb: Eine Überlegen-heitsfantasie wehrt die Erinnerungen an Beschämung ab (Ansbacher & Ansbacher, 1956) und projiziert das Schamgefühl nach außen. Ein klinisches Fallbeispiel soll dieses Konzept illustrieren.

Robert (39), verheiratet, zwei Kinder, war für zweieinhalb Jahre in Gruppentherapie. Er beschrieb, dass er häufig in seiner Fantasie mit seinen Kollegen oder Abteilungsleitern diskutierte, während er zur Arbeit fuhr. Er schmückte diese Fantasien oft mit einer langen, gut formulierten Rede vor dem Vorstand aus. In diesen fantasierten Diskussionen stellte er die Fehler der anderen heraus und wie falsch deren Kritik an ihm war, und am wichtigsten, wie den anderen Fehler unterliefen, die er, Robert, nie machen würde. In Roberts Fantasie wären die Vorstandsmitglieder von seinen eloquenten, überzeugenden Argumenten emotional bewegt. Er würde von aller Kritik entlastet, während die anderen sowohl für ihre Kritik an ihm als auch für ihre eigenen Verfehlungen zur Verantwortung gezogen würden. Diese zwanghaften Fantasien wurden oft durch Kritik bei der Arbeit ausgelöst, wenn Robert keine Gelegenheit hatte, seine Beweggründe zu erklären. Das Fehlen eines fortgesetzten Dialogs mit Menschen, schien ihn zu zwanghaften Fantasien anzutreiben, in denen er mit anderen vor einem Publikum debattieren konnte, das schlussendlich beipflichtete, dass Robert im Recht war, rechtschaffen eben. Diese zwanghaften Fantasien verringerten sich allmählich und verschwanden schließlich als wir die Beschämung untersuchten, der er während der Grundschule ausgesetzt war, eine Zeit, in der er eine Sprachbehinderung hatte. Sowohl die Lehrer als auch die anderen Kinder machten sich über seine Behinderung lustig. Obwohl er sich in der Psychotherapie nicht an Beispiele für diese Sticheleien oder das Nachäffen erinnerte, wusste er, dass sie ihn lächerlich gemacht hatten. Durch deren Reaktion gegenüber ihm, hatte er beständig ein Gefühl, das ihm nahelegte „Mit Dir stimmt etwas nicht!“.

Im Laufe der Jahre arbeitete er akribisch daran, seine Sprache zu verbessern und seine Behinderung zu überwinden und entwickelte schlussendlich eine einwandfreie Ausdrucksweise. Jedoch war er während der vier Grundschuljahre den Demütigungen der anderen Kinder und der Lehrer ausgeliefert gewesen. Durch die Verschmelzung mit dem demütigenden Verhalten der Lehrer und der Klassenkameraden, nahm er den Skriptglauben „Mit mir stimmt etwas nicht“ an und setzte ihn als Erklärung für den Verlust enger Freundschaften mit anderen Kindern und die Nichterfüllung seines Wunsches von den Lehrern angenommen zu werden ein. Außerdem wehrte er durch die Perfektionierung seiner Sprache das Bewusstwerden seines Skriptglaubens ab. Egal wie perfekt seine Sprache im Erwachsenenleben wurde, sobald ihn jemand kritisierte, hörte er aufmerksam auf dessen Kommentare. Die aktuelle Kritik aktivierte die emotionalen Erinnerungen an die frühere Beschämung, wobei die introjizierte Kritik intrapsychisch die fixierte, frühere Scham beeinflusste und dadurch die aktuelle Kritik vervielfachte. Am nächsten Tag verteidigte er sich auf dem Weg zur Arbeit zwanghaft gegen die Bemerkungen der Kollegen oder Vorgesetzten, um sich selbst zu beruhigen, sich nach jemand sehnend (die Vorstände), der ihm sagte, dass er im Recht war.

In Roberts Fall wurde der Abwehrprozess (bestehend aus Verleugnung und Gegen-sich-Wendung des Ärgers, verschmolzen mit der früheren Kritik, Umwandlung der Gefühle und Entwicklung von Fantasien) fixiert, wie jeder Abwehrprozess fixiert wird, der nicht gleich zu Beginn mit Empathie und eingestimmter Beziehung beantwortet wird (Erskine, 1993). Durch den Respekt für Roberts Art, Beziehungen mit Menschen einzugehen und eine einfühlsame, ernstgemeinte Erfragung seines Erlebens, begannen sich Roberts zwanghafte Fantasien zu offenbaren. Die selbstgerechten Fantasien wehrten den natürlichen Wunsch nach nahen Beziehungen ab und sein Bedürfnis, die anderen mögen die gestörte Beziehung beheben. Durch emotionale Einstimmung und empathische Transaktionen, konnte er die früheren Gefühle von Scham, Traurigkeit, Angst und Ärger und die Verstrickung als Antwort auf die Demütigungen erleben. Als er seine Angst und Traurigkeit über den Kontaktverlust in seinen Beziehungen zu den Lehrern und anderen Kindern ausdrückte, entdeckte er seine Sehnsucht wieder, mit anderen verbunden zu sein (eine Es-Funktion des Selbst). Die abwehrenden Fantasien hörten auf. Mitfühlende Teilnahme des Therapeuten und der anderen Gruppenmitglieder ermöglichten Robert, sein Bedürfnis nach nahem emotionalem Kontakt als natürlich und erstrebenswert zu erleben.

Das Lebensskript

Die zentralen Konzepte der Gestalttherapie, Kontakt, Unterbrechungen von internem und externem Kontakt und ein therapeutischer Ich-Du-Dialog, stellen die Basis für eine beziehungsorientierte Psychotherapie dar. Bei der Psychotherapie von Scham und Selbstgerechtigkeit, die wie viele andere psychische Störungen in Beziehungsbrüchen begründet sind, verbessert sich die therapeutische Wirkung, wenn der Therapeut eine zusammenhängende und widerspruchsfreie, beziehungsorientierte theoretische Grund-lage hat, um die Therapie zu planen und nachfolgende klinische Interventionen festzulegen.

In theoretischen Diskussionen und Schriften verwendete Frederick Perls (1967, 1973) das Konzept des Lebensskripts. Er konzentrierte sich auf die Struktur und den Umbau des Lebensskripts und darauf, wie wir andere Menschen nutzen, um unser Lebens-skript zu bestätigen. Das Lebensskript ist ein umfassendes Konzept, das in einem früheren Alter fixierte Gestalten beschreibt und wie sie in späteren Jahren ausgelebt werden (Erskine, 1979). Das Lebensskript wird durch Introjektionen und Abwehrreak-tionen geformt, die unter dem Druck des Scheiterns von nahen und hilfreichen Bezie-hungen entstanden. Das Bedürfnis nach Kontakt und das damit zusammenhängende Gefühl des Beziehungsverlusts werden abgestritten und unterdrückt. Die Introjek-tionen und/oder fixierten Abwehrreaktionen, Schlussfolgerungen und Entscheidungen, die das Herzstück des Lebensskripts bilden (Erskine, 1980), sind kognitiv als „Skript-glaubenssätze“ aufgebaut (Erskine & Moursund, 1988; Erskine & Zalcman, 1979). Bei dem Versuch des Kindes, seinen Erfahrungen des Kontaktmangels in nahen Bezie-hungen einen Sinn zu geben, ist es mit der Antwort auf die folgende Frage konfrontiert: „Was möchte eine Person, dass ich in einer Welt wie dieser, mit Personen wie diesen tue?“ Wenn das Kind unter dem Druck des Kontaktmangels in nahen Beziehungen steht, die es bestätigen, wertschätzen und seine Bedürfnisse erfüllen, dann könnte es jeden der drei Teile dieser Frage mit einer Abwehrreaktion beant-worten, und/oder mit einer unbewussten, schützenden Identifikation mit dem anderen, die eine Introjektion darstellt. Wenn Introjektionen, abwehrende Schlussfolgerungen und Entscheidungen nicht durch eine kontaktvolle, empathische andere Person beantwortet werden, werden sie oft zu fixierten Glaubenssätzen über sich selbst, andere und die Qualität des Lebens – dem Herzstück des Lebensskripts. Dies ist ein Versuch, sich selbst zu stützen. Diese Skriptglaubenssätze fungieren als kognitive Abwehr gegen das Bewusstwerden der Gefühle und Bedürfnisse nach nahen Beziehungen und gegen die vollständige Erinnerung an Beziehungsabbrüche, eine archaisch fixierte Gestalt.

In Roberts Fall übernahm er während seiner Grundschulzeit den Skriptglaubenssatz „Mit mir stimmt etwas nicht“ als eine Verstrickung (Konfluenz) mit der Beschämung durch die Mitschüler und Lehrer und als eine Pseudo-Befriedigung seines Bedürfnisses von diesen anerkannt zu werden. Das Herzstück von Roberts Schamgefühl besteht aus der kindlichen, selbst-schützenden Verwandlung von Traurigkeit und Angst, Verleugnung und Retroflektion von Ärger darüber, nicht respektvoll behandelt zu werden und einem fixierten, herabgesetzten Selbstkonzept, verschmolzen mit der introjizierten Kritik. Wenn der Schmerz, nicht akzeptiert zu werden wie man ist, zu groß wird, wie in Roberts Situation, kann eine abwehrende selbstgerechte Fantasie eingesetzt werden, um das Beziehungsbedürfnis zu verleugnen und gleichzeitig den davor verleugneten und gegen sich selbst gerichteten Ärger, das Bedürfnis nach Einfluss auf andere und den Wunsch respektvoll behandelt zu werden, auszudrücken.

Aus der Perspektive der Lebensskripttheorie ist das Schamgefühl aus dem Kernskript-glauben „Mit mir stimmt etwas nicht“ aufgebaut. Er dient als kognitive Abwehr gegen das Bewusstwerden des Bedürfnisses nach nahen Beziehungen und der Gefühle von Traurigkeit und Angst, die zum Zeitpunkt der Demütigung erlebt wurden. Wenn der Skriptglauben „Mit mir stimmt etwas nicht“ aktiviert ist, zeigen die Betroffenen oft Skript-verhalten, das gehemmt oder unangemessen schüchtern erscheint, mit einem Mangel an Blickkontakt während Gesprächen, einem Mangel an Selbstausdruck, vermindertem Ausdruck von natürlichen Wünschen und Bedürfnissen oder Unter-drückung jeglicher natürlichen Äußerungen des Selbst, die Kritik hervorrufen könnten.

Die Fantasien können Vorwegnahmen von Unzulänglichkeit, Leistungsversagen oder Kritik beinhalten, die in einer Bekräftigung des Skriptglaubens „Mit mir stimmt etwas nicht“ enden. Andere Fantasien können das ‚Wiederkäuen‘ von Ereignissen einbe-ziehen, die sich ereignet haben und die Erinnerung derart umformen, dass diese den Skriptglauben bekräftigt. In manchen Fällen manifestiert sich der Skriptglauben in körperlichen Einschränkungen wie Kopf- oder Magenschmerzen oder anderem körperlichem Unwohlsein, die das Individuum daran hindern, sich so zu verhalten, dass es Opfer beschämender Kommentare werden könnte, während sie gleichzeitig den internen Beweis dafür erbringen, dass „mit mir etwas nicht stimmt“. Oft werden alte Erinnerungen an beschämende Erlebnisse wiederholt aufgerufen, um die Homöostase mit dem Skriptglauben und die Versagung der ursprünglichen Bedürfnisse und Gefühle aufrecht zu erhalten. Durch die Selbsthemmung und die selbstkritischen Fantasien bleibt das Bedürfnis nach nahen Beziehungen jedoch eine unbewusste Hoffnung auf Wiederherstellung einer kontaktvollen Beziehung und vollständige Akzeptanz durch die anderen. Es ist als ob man zu den Spöttern sagen würde „Wenn ich werde, wie Ihr mich haben wollt, werdet Ihr mich dann lieben?“.

Robert, als ein Beispiel für die Dynamik der doppelt abwehrenden Selbstgerechtigkeit, begann die Therapie ohne Bewusstheit für Hoffnungen und Bedürfnisse nach Bezie-hungen. Sein Lebensskript manifestierte sich anscheinend entgegengesetzt zu seinem Skriptglauben: Er perfektionierte seine Sprache und sein Verhalten in einer Weise, dass es keinen äußeren Anschein gab, dass „etwas mit ihm nicht stimmt“. Seine selbst-gerechten Fantasien konzentrierten sich darauf, was mit den anderen nicht stimmte. Trotzdem blieb er überempfindlich für Kritik mit einer unbewussten Sehnsucht nach einer Autorität, die ihm sagt, dass er in Ordnung ist.

„Mit mir stimmt etwas nicht“

Die fortgesetzte mehrstufige Verstärkung des Skriptglaubens „Mit mir stimmt etwas nicht“ stellt den Therapeuten vor komplexe Herausforderungen, welche typisch und einzigartig bei der Psychotherapie der Scham und Selbstgerechtigkeit sind. In vielen klinischen Fällen ließ sich dieser spezielle Skriptglauben mit den oft verwendeten gestalttherapeutischen Methoden, wie „Heißer Stuhl“-Arbeit, Konfrontation, aggressive Herausforderung und Bekräftigung von Selbsthilfe und Selbstverantwortlichkeit, nicht erfolgreich behandeln. Jede dieser Methoden brachte nur teilweise oder kurzfristige Veränderungen in der Auftretenshäufigkeit oder der Intensität dieses komplexen Skript-glaubens, der den Kern von Scham und Selbstgerechtigkeit bildet. Vielmehr kommuniziert die bloße Verwendung dieser Methoden oft schon „Mit Dir stimmt etwas nicht“, was dann als Verstärkung des Skriptglaubens dient, das Abstreiten des Bedürfnisses nach nahen Beziehungen verstärkt und dadurch das Schamgefühl und die Selbstgerechtigkeit erhöht. Durch den Einsatz von Methoden, die Respekt (Erskine & Moursund, 1988), den therapeutischen Dialog (Jacobs, 1996; Yontef, 1993), eine vorsichtige Erfragung, affektive Einstimmung und Engagement (Erskine 1993, 1995; Erskine & Trautmann, 1993) betonen, wird das Risiko der Skriptverstärkung während des therapeutischen Prozesses erheblich gesenkt.

Um die Behandlungsplanung zu erleichtern und die psychotherapeutischen Interven-tionen weiterzuentwickeln, ist es notwendig, die intrapsychischen Funktionen ebenso wie die historischen Ursprünge des Skriptglaubens zu erkennen. Jede Art und Weise, in der Skriptglauben entstanden ist, hat eine einzigartige intrapsychische Funktion, die einen bestimmten Schwerpunkt in der Psychotherapie erfordert. Der komplexe, historische Ursprung der archaisch fixierten Gestalt „Mit mir stimmt etwas nicht“, kann aus drei Blickwinkeln verstanden werden:

1) Botschaften, die mit Entscheidungen verschmolzen sind

2) Schlussfolgerungen als Antwort auf eine unmögliche Aufgabe

3) Abwehrreaktionen aus Hoffnung und Kontrolle

Angesichts eines möglichen Beziehungsverlusts, kann ein Kind gezwungen sein, die abwehrende, verstrickte Entscheidung zu treffen, als seine Identität die Zuschreibung derer zu akzeptieren, von denen es abhängig ist (eine Unterbrechung der Ich-Funktion des Selbst). Dies kann eine Anpassung an oder Verschmelzung mit der offenen oder impliziten Botschaft „Mit Dir stimmt was nicht“ sein. In vielen Fällen wird diese Botschaft in Form der kritisierenden Frage „Was stimmt mit Dir nicht?!“ angebracht. Die psychologische Botschaft lautet dabei „Wenn Du normal wärst, würdest Du nicht tun, was Du tust!“. Solche Kritik versagt darin, das natürliche und spontane Verhalten des Kindes wertzuschätzen, die Beweggründe des Kindes zu verstehen oder zu unter-suchen, was in der Beziehung zwischen dem Kind und der kritisierenden Person fehlen könnte. Ein Kind, das einen solchen Skriptglauben in Verschmelzung mit Kritik herausbildet, kann überempfindlich gegenüber Kritik werden, vorausschauend Kritik fantasieren und verstärkende Erinnerungen an vergangene Kritik sammeln (eine Unterbrechung der Persönlichkeitsfunktion des Selbst). Die intrapsychische Funktion des Skriptglaubens ist, das Gefühl der Bindung in Beziehungen aufrecht zu erhalten auf Kosten eines Mangels an natürlicher Lebendigkeit und Spontaneität (eine Unter-brechung der Es-Funktion des Selbst).

Wenn Kinder mit einer unmöglichen Aufgabe konfrontiert sind, schließen sie daraus oft „mit mir stimmt etwas nicht“. Durch solche eine Schlussfolgerung können sie das Unbehagen des fehlenden Kontakts abwehren und den Pseudo-Anschein einer Beziehung aufrechterhalten. Dysfunktionale Familien stellen Kinder oft vor unmögliche Aufgaben. Zum Beispiel ist es für ein kleines Kind unmöglich, einen alkoholsüchtigen Elternteil vom Trinken abzuhalten oder für ein Baby als Ehetherapeut zu agieren oder für ein Grundschulkind, Depression zu heilen. Es ist unmöglich für ein Kind, zu versuchen, sein Geschlecht zu ändern, um den Traum der Eltern zu erfüllen. Jedes dieser Beispiele stellt eine Verkehrung der Verantwortlichkeit der Bezugsperson für das Wohlergehen des Kindes dar und einen Mangel an Beziehungskontakt. Weitere Beziehungsunterbrechungen werden als „mein Fehler“ erlebt und lenken von der Bewusstheit von Bedürfnissen und Gefühlen ab, die auftreten, wenn das Wohlergehen des Kindes nicht respektiert wird oder wurde (eine Unterbrechung sowohl der Es- als auch der Ich-Funktion des Selbst).

Der Skriptglauben „Mit mir stimmt etwas nicht“ kann auf eine dritte Art entstehen, als selbst-stabilisierende Reaktion von Kontrolle und Hoffnung – der Hoffnung auf eine fortgesetzte, kontaktvolle zwischenmenschliche Beziehung. Wenn familiäre Beziehun-gen dysfunktional sind, könnte ein Kind, das eine nahe Beziehung braucht, denken, „Ich bin an den Problemen meiner Bezugsperson Schuld“. „Ich habe Vater dazu gebracht, sich zu betrinken.“, „Ich habe Mutter depressiv gemacht.“ oder „Ich habe den sexuellen Missbrauch verursacht... Also muss etwas mit mir nicht stimmen!“ Indem es die Schuld auf sich nimmt, ist das Kind nicht nur die Quelle der Probleme, es kann sich auch vorstellen, die Kontrolle für die Lösung des familiären Problems zu haben. „Wenn ich sehr gut bin“, „Wenn ich mich beeile und schnell groß werde“, „Ich kann in Therapie gehen, um richtig eingestellt zu werden“ oder „Wenn die Dinge schieflaufen, kann ich mich immer noch selbst umbringen, weil ja alles meine Schuld ist.“ Die psychologische Funktion einer solchen Reaktion ist es, eine hoffnungsfrohe Illusion bedürfnis-befriedigender Bezugspersonen zu kreieren, welche die Bewusstwerdung des Mangels an Bedürfniserfüllung innerhalb der primären Beziehungen abwehrt. Die Bezugs-personen werden als gut und liebevoll erlebt und jedes Ignorieren, Kritisieren, Schlagen oder sogar Vergewaltigen ist, „weil etwas mit mir nicht stimmt“. Hier fungiert der Kernskriptglauben als eine selbst-schützende Kontrolle über die Verletzlichkeit in Beziehungen (eine Unterbrechung der Es-, Ich – und Persönlichkeitsfunktion des Selbst).

Jeder dieser drei Ursprünge des zugrundeliegenden Skriptglaubens hat bestimmte Funktionen, die Homöostase der Identität, der Stabilität und der Kontinuität aufrecht zu erhalten. Bei mancher Person gibt es vielleicht nur einen Weg, wie der Skriptglauben ausgebildet wurde. Der zugrundeliegende Skriptglauben hat jedoch öfter mehr als einen Ursprung, mehrfache intrapsychische Funktionen und mehrfache Unter-brechungen in der Funktion des Selbst. Jede Kombination dieser drei Abwehr-reaktionen, die unter Druck entstanden ist, erhöht die Komplexität der Funktionen. Der Kernskriptglauben „Mit mir stimmt etwas nicht“ setzt sich oft aus diesen multiplen Funktionen zusammen.

Bei einer tiefenwirksamen Gestalttherapie ist es unbedingt notwendig, die Ursprünge und intrapsychischen Funktionen eines Skriptglaubens einzuschätzen, und wertzu-schätzen, wie die multiplen Funktionen dem Klienten helfen, seine psychische Homö-ostase aufrechtzuerhalten (Perls, 1973). Die Psychotherapie von Scham und Selbst-gerechtigkeit ist wegen der zusammengesetzten und sich ständig verstärkenden, multiplen intrapsychischen Funktionen komplex. Lediglich den Skriptglauben zu iden-tifizieren oder zu konfrontieren und Methoden, wie Stuhlarbeit, emotionalen Ausdruck oder vorschnelle Selbsthilfe anzuwenden, übersieht die psychologischen Funktionen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung des Skriptglaubens. Solche Versuche können die Intensität der intrapsychischen Funktionen erhöhen und den fixierten Kern des Skripts weniger anpassungsfähig machen. Ein respektvolles und geduldiges Erfragen des phänomenologischen Erlebens des Klienten ist erforderlich, um die einzigartige Kombination aus homöostatischen, intrapsychischen und Selbstfunktionen zu verstehen. Dann ist es die Aufgabe des beziehungsorientierten Gestalttherapeuten, eine emotionale und entwicklungsgerechte Einstimmung und Mitwirkung aufzubauen, welche die Übertragung der schützenden intrapsychischen Funktionen auf die Bezie-hung zum Therapeuten ermöglichen. Durch die Beständigkeit, Verlässlichkeit und Verantwortlichkeit des Therapeuten im Beziehungskontakt, kann der Klient seinen beziehungsunterbrechenden Abwehrprozess lockern und früher fixierte Gestalten, Introjektionen und Es-, Ich- und Persönlichkeitsfunktionen des Selbst integrieren. Die psychologischen Funktionen Identität, Ausgeglichenheit und Unterbrechungsfreiheit werden wieder durch Kontakt in einer zwischenmenschlichen Beziehung zur Verfügung gestellt und sind nicht länger eine selbstschützende Funktion.

Scham als Introjektion

Bei der Entstehung des fixierten Kernskriptglaubens (durch fügsame Entscheidung, als schlussfolgernde Antwort auf eine unmögliche Anforderung, als selbst-stabilisierende Reaktionen von Hoffnung und Kontrolle oder jedweder Kombination dieser Drei) fehlte höchstwahrscheinlich eine mitfühlende, verständnisvolle und antwortende Beziehung. Wenn es einen Mangel an vollständigem psychischem Kontakt zwischen einem Kind und den für sein Wohlergehen verantwortlichen Erwachsenen gibt, wird häufig die Abwehr der Introjektion eingesetzt. Durch die schützende, unbewusste Identifikation, welche die Introjektion ausmacht, werden die Überzeugungen, Einstellungen, Gefühle, Beweggründe, Verhaltensweisen und Abwehrmechanismen der Person, von der das Kind abhängig ist, zum Bestandteil des kindlichen Ich gemacht, als ein bruchstückhafter exteropsychischer Zustand (EL; Erskine & Moursund, 1988). Die Funktion der Introjektion besteht darin, den externen Konflikt zwischen dem Kind und der Person zu reduzieren, von der es für seine Bedürfniserfüllung abhängig ist. Der bedeutsame Andere wird zu einem Teil des Selbst gemacht, und der Konflikt, der aus einem Mangel an Bedürfnisbefriedigung resultiert, wird internalisiert, sodass der Konflikt scheinbar einfacher handhabbar wird (L. Perls, 1977, 1978).

Die introjizierte Person kann in der Interaktion mit anderen (eine Unterbrechung der Persönlichkeitsfunktion des Selbst) aktiv werden, intrapsychischen Einfluss nehmen (eine Unterbrechung der Es-Funktion des Selbst) oder phänomenologisch als Selbst erlebt werden (eine Unterbrechung der Ich-Funktion des Selbst). Ein Individuum kann mit Familienmitgliedern oder Kollegen so interagieren, wie die introjizierte Person das einst getan hat, z.B. indem er „Mit Dir stimmt etwas nicht!“ kommuniziert. Die psychologische Funktion einer solchen Interaktion ist, eine vorübergehende Ent-lastung von der internen Kritik der Introjektion zu gewährleisten und durch die Projektion der Kritik, die Verleugnung des ursprünglichen Bedürfnisses nach Beziehungskontakt fortzusetzen.

Die interne Kritik ist die Wiedergabe der Kritik, die in der Vergangenheit introjiziert wurde. Sie treibt den Verstrickungszyklus der Kritik an und die früher fixierte Abwehr gegen Traurigkeit und Angst. Dieser Abwehrzyklus der Scham dient dazu, die Illusion der Bindung und Loyalität an die Person aufrechtzuerhalten, zu der sich das Kind ursprünglich nach einer kontaktvollen zwischenmenschlichen Beziehung gesehnt hat.

Introjizierte Scham kann nicht nur aktiv und beeinflussend sein, sondern wird oft auch als Selbst erlebt. Das elterliche Schamgefühlt kann introjiziert worden sein. Durch die Besetzung oder Belebung (Besetzung mit Energie) der Introjektion, wird die Scham als eigene fehlverstanden. Der Skriptglauben „Mit mir stimmt etwas nicht!“ kann in Wirk-lichkeit eine Introjektion sein. Der Zirkel aus Scham, Verstrickung mit Kritik, Umwand-lung von Traurigkeit und Angst, Verleugnung und Gegen-sich-Wendung von Ärger und Sehnsucht nach Beziehung kann zu Mutter oder Vater gehören. Auch schützende Selbstgerechtigkeit kann das Ergebnis der Besetzung einer Introjektion mit Energie sein.

Jahrelang litt Susan an einer lähmenden Scham bezüglich ihrer Unzulänglichkeit, während sie gleichzeitig eine Mutter hatte, die wechselweise depressiv oder ärgerlich war und sie befürchtete, dass sie eines Tages auch so „verrück“ würde. In der An-fangsphase der Therapie wurde ihr Bedürfnis nach Aufmerksamkeit anerkannt, die emotionale Vernachlässigung in ihrer Kindheit validiert und der Abwehrprozess von „Mit mir stimmt etwas nicht“ normalisiert. Danach konzentrierte sich die Psychothera-pie auf die introjizierte Scham, die ursprünglich die der Mutter war (Erskine & Moursund, 1988). In einer kontaktorientierte, tiefenwirksame Gestalttherapie, die Erfragung, Einstimmung und Beteiligung betont, experimentierte Susan mit einem Zwei-Stühle-Dialog, bei dem sie in einem Stuhl „Mutter“ war und in dem anderen Stuhl „die viel jüngere Susan“. Sie erinnerte sich lebhaft, dass sie die Last der Mutter tragen wollte, damit diese nicht mehr leiden muss. Während des Zwei-Stuhl-Dialoges be-schrieb sie prägnant den Prozess, wie sie unbewusst introjizierte: „Mutter, ich liebe Dich so sehr, ich trage Deine Scham für Dich!“.

Psychotherapeutische Interventionen

Die Psychotherapie von Scham und Selbstgerechtigkeit beginnt damit, dass der Psychotherapeut immer von neuem die einzigartige Psychodynamik jedes Klienten entdeckt. Jeder auf Scham beruhende Klient präsentiert ein unterschiedliches Bündel an Verhalten, Fantasien, psychologischen Funktionen, Kontaktunterbrechungen, Brüchen im Kontakt zu sich selbst und selbstschützender Abwehr. Die theoretischen Blickwinkel, die in diesem Kapitel beschrieben werden, sind Generalisierungen aus der klinischen Praxis und der Integration verschiedener theoretischer Konzepte. Die Theorie soll keine Aussage darüber darstellen, was ist, sondern als eine Richtlinie im therapeutischen Prozess von Erfragung, Einstimmung und Beteiligung dienen. Wesentlich ist, dass das Phänomen von Scham und Selbstgerechtigkeit, wie es hier von der Perspektive einer gestalttherapeutischen Theorie erklärt wird, Gestaltthera-peuten ermutigt, mit jedem Klienten seine einzigartige Erfahrung von Scham zu erkunden und einen beziehungsorientierten Psychotherapieansatz daran anzupassen.

Eine geduldige, respektvolle Erfragung des phänomenologischen Erlebens des Klienten versorgt Klient und Therapeut mit einem immer besseren Verständnis dafür, wer der Klient ist und welchen Erfahrungen er ausgesetzt war. Der Prozess der Erfra-gung muss feinfühlig für die subjektiven Erfahrungen und die unbewusste intrapsy-chische Dynamik des Klienten sein, um effektiv Bedürfnisse, Gefühle, Fantasien und Abwehr zu erkennen und aufzudecken. Der Hauptfokus einer behutsamen Erfragung ist, dass der Klient selbst seine Sehnsucht nach Beziehung, Kontaktunterbrechungen (internal und external) und Erinnerungen entdeckt, die in der Vergangenheit zwangs-läufig von der Bewusstheit ausgeschlossen waren. Ein weniger wichtiger Fokus liegt auf dem zunehmenden Verständnis des Psychotherapeuten für die phänomenologi-schen Erfahrungen und intrapsychischen Vorgänge des Klienten. In vielen Fällen war es für die Klienten wichtig herauszufinden, dass der Therapeut aufrichtig daran interessiert ist, ihnen zuzuhören und zu verstehen, wer sie sind. Solche Entdeckungen bezüglich der Beziehung zum Therapeuten ermöglichen eine vergleichende Nebenein-anderstellung zwischen dem Kontakt, der im Hier und Jetzt verfügbar ist und der Erinnerung daran, was früher womöglich gefehlt hat.

Der Vergleich, wie der Therapeut frägt, zuhört und sich einstimmt mit der Erinnerung an den Mangel an zwischenmenschlichem Kontakt in vorhergehenden bedeutsamen Beziehungen, ruft intensive emotionale Erinnerungen an Beziehungsbedürfnisse, die nicht erfüllt wurden wach. Um diese Gefühle nicht zu erleben, kann der Klient abwehrend auf den zwischenmenschlichen Kontakt reagieren, den der Therapeut ihm anbietet, mit Angst, Ärger oder erhöhter Scham. Der Kontrast zwischen dem mit dem Therapeuten verfügbaren zwischenmenschlichen Kontakt zum Kontaktmangel in den Beziehungen der Vergangenheit ist oft mehr, als Klienten ertragen können, deshalb wehren sie sich gegen den aktuellen Kontakt, um die emotionalen Erinnerungen zu vermeiden (Erskine, 1993). Die Nebeneinanderstellung stellt eine Möglichkeit dar, anzuerkennen, was benötigt wurde und zu bestätigen, dass die Gefühle und der Selbstwert mit der Beziehungsqualität mit bedeutsamen Anderen in Verbindung stehen können.

Bei den meisten Beziehungsschwierigkeiten (inkl. Depression, Ängstlichkeit, Fett-leibigkeit, Süchte und Persönlichkeitsstörungen) kann Scham eine wichtige Dynamik sein. Die Einstimmung des Therapeuten auf das unausgesprochene Schamgefühl, bietet für die Klienten die Möglichkeit, ihren inneren Prozess aus Gefühlen, Fantasien, Wünschen und Abwehr zu offenbaren. Einstimmung beinhaltet ein Gefühl voll-ständiger Bewusstheit für die entwicklungsbasierten Bedürfnisse, Gefühle und selbst-schützenden Dynamiken – ein kinästhetisches und emotionales Erspüren, was es bedeutet, mit den Erfahrungen der Klienten zu leben. Einstimmung geschieht, wenn der Therapeut den Entwicklungsstand des Klienten im Umgang mit Scham anerkennt und keinerlei Zuschreibungen oder Kategorisierungen der Fantasien, Beweggründe oder des Verhaltens des Klienten vornimmt. Einstimmung beinhaltet auch die feinfühlige Kommunikation gegenüber dem Klienten, dass der Therapeut sich des inneren Kampfes bewusst ist, und dass der Klient nicht mutterseelenallein ist, in seiner Traurigkeit, nicht so akzeptiert worden zu sein, wie er ist und in seiner Angst, eine Beziehung zu verlieren, aufgrund dessen, wer er ist. Der therapeutische Prozess von Einstimmung und Beteiligung erkennt an, wie schwierig es ist, die innere Verwirrung und den inneren Kampf zu offenbaren, schätzt die verzweifelten Versuche von Selbsthilfe und Bewältigung wert und bietet gleichzeitig das Gefühl der Anwesenheit des Therapeuten.

Manche sich schämenden Klienten haben womöglich nicht die Erfahrung gemacht, über ihre Bedürfnisse zu sprechen oder haben keine Sprache, die sich auf Gefühle oder innere Prozesse bezieht. In manchen Familien resultierte das Haben von Be-dürfnissen oder das Sprechen über Gefühle darin, dass das Kind ignoriert oder lächer-lich gemacht wurde. Wenn es in der Familie oder im Schulsystem einen Mangel an Einstimmung, Anerkennung oder Bestätigung für Bedürfnisse oder Gefühle gab, hat der Klient möglicherweise keine Sprache, mit der er in Beziehungen seine Gefühle oder Bedürfnisse ausdrücken kann (Basch, 1988; Tustin, 1986). Oft gibt es in solchen Familien oder Schulsystemen keinen emotionalen zwischenmenschlichen Kontakt (eine nonverbale Transaktion), bei dem der Ausdruck eines Gefühls durch eine Person bei der anderen Person ein entsprechendes Gefühl der Bezogenheit auslöst.

Ein Affekt ist von Natur aus transaktional und relational und bedarf einer entspre-chenden affektiven Resonanz: Der Ausdruck von

- Traurigkeit soll Mitgefühl und mögliche mitfühlende Handlungen bewirken.

- Ärger soll gefühlsbezogene Achtsamkeit, Ernsthaftigkeit und Verantwortlichkeit wie etwa korrigierende Handlungen bewirken.

- Angst soll Gefühle und Handlungen des Schutzes und der Sicherheit bewirken.

- Freude soll Gefühle der Lebendigkeit und den Ausdruck von Vergnügen bewirken.

Obwohl es manchmal in der therapeutischen Praxis keine Berücksichtigung findet, ist das Konzept des Affekts in der Zwei-Personen-Psychologie oder Feldtheorie einge-bunden, die die Basis der Gestalttherapie sind (Perls, 1944). Wenn das Gefühl eines Individuums von einem anderen als bezogene Transaktion empfangen wird, kann der Affekt vollständig ausgedrückt werden. Metaphorisch gesprochen, das Yin des einen Affekts auf das Yang des anderen, reziproken Affekts als Antwort trifft.

Einstimmung schließt das Gespür des Therapeuten für das Gefühl des Klienten ein. Durch die Wechselseitigkeit wird der Therapeut angeregt, ein entsprechendes Gefühl und mitschwingendes Verhalten zu zeigen. Ein Prozess, ähnlich wie der, den Daniel Stern (1985, 1995) als denjenigen in gesunden Interaktionen zwischen Kleinkind und Mutter beschreibt. Der bezogene Affekt des Therapeuten kann dadurch ausgedrückt werden, dass der Therapeut das Gefühl des Klienten anerkennt, was zu der Bestä-tigung führt, dass dieses Gefühl einen Zweck (eine Aufgabe) in ihrer Beziehung hat. Dabei ist entscheidend, dass der Therapeut bezüglich der entwicklungsbedingten Fähigkeit des Klienten, seine Gefühle auszudrücken sowohl gut unterrichtet als auch eingestimmt ist. Der Klient könnte Anerkennung für seine Gefühle und Bedürfnisse brauchen, hat aber keine soziale Sprache, um diese in einem Gespräch auszu-drücken. Deshalb kann es als ersten Schritt notwendig sein, dass der Therapeut dem Klienten hilft, seine Gefühle, Bedürfnisse oder Erfahrungen zu benennen, um das Gefühl zu erlangen, eine Beziehung beeinflussen zu können.

Engagement beginnt mit der Verpflichtung des Therapeuten für das Wohlergehen des Klienten und seinem Respekt für dessen phänomenologische Erfahrungen. Es setzt sich durch das empathische Erfragen der Erfahrungen des Klienten fort und entwickelt sich weiter durch die Einstimmung des Therapeuten auf die Gefühle des Klienten und die Bestätigung von dessen Bedürfnissen. Engagement ist das Ergebnis, wenn der Therapeut vollständig in einer Art und Weise mit dem Klient ist in Kontakt, die dessen Entwicklungsstand entspricht.

Scham und Selbstgerechtigkeit sind Abwehrprozesse, durch welche der Wert eines Individuums abgewertet und die Existenz, Bedeutsamkeit und Lösbarkeit einer Bezie-hungsunterbrechung verzerrt oder abgestritten werden. Das therapeutische Engage-ment mit Anerkennung, Bestätigung und Normalisierung, und die therapeutische Verfügbarkeit verringern interne Kontaktunterbrechungen, welche Teil der abweh-renden Verleugnung sind und die Scham begleiten.

Durch Feinfühligkeit gegenüber den Erscheinungsformen der Scham und über das Verständnis der psychologischen Funktionen von Scham und Selbstgerechtigkeit, ermöglicht der Psychotherapeut das Eingeständnis und den Ausdruck der natürlichen Gefühle und Bedürfnisse des Klienten nach Beziehung. Anerkennung ist das thera-peutische Gegenstück zur Abwertung der Existenz von Beziehungsstörungen. Wenn die Anerkennung durch ein empfängliches Gegenüber gegeben wird, das über Be-ziehungsbedürfnisse und Gefühle Bescheid weiß und spricht, löst dies die intra-psychische Kontaktunterbrechung des Klienten zu seinen Gefühlen und Bedürfnissen auf.

Therapeutische Validierung (Bestätigung) findet statt, wenn der Klient sein Schamge-fühl, seinen herabgesetzten Selbstwert und seine abwehrenden Fantasien als Folge bedeutsamer Beziehungsstörungen erfährt. Validation (Bestätigung) ist eine kognitive Verknüpfung von Ursache und Folge, die therapeutische Antwort auf die Abwertung der Bedeutsamkeit einer Beziehungsstörung. Validation gibt dem Klienten eine höhere Wertschätzung für seine phänomenologischen Erfahrungen und erhöht dadurch das Selbstwertgefühl.

Normalisierung entpathologisiert die emotionalen Erfahrungen eines Klienten. Sie wirkt der Abwertung der Lösbarkeit einer Beziehungsstörung entgegen. Als Kind wurde vielen Klienten gesagt, „Mit Dir stimmt etwas nicht!“ oder sie schlossen „Mit mir stimmt etwas nicht!“, wenn sie vor der unlösbaren Aufgabe standen, für das Wohlergehen ihrer Eltern verantwortlich zu sein. Die Last der Verantwortung für die Beziehungs-unterbrechung wurde fälschlicherweise beim Kind platziert und nicht bei der erwach-senen Bezugsperson. Das therapeutische Gegenstück zur Abwertung der Lösbarkeit eines Problems ist das angemessene Zuordnen der Verantwortlichkeit für die Bezie-hung. Es ist zwingend erforderlich, dass der Therapeut klarstellt, dass die Erlebnisse des Klienten (Scham, Selbstkritik oder vorweggenommene Verspottung) eine normale Abwehrreaktion darauf sind, gedemütigt oder ignoriert zu werden und dass das nicht pathologisch ist.

Die Zuordnung der Verantwortlichkeit beginnt damit, dass der Therapeut die Verant-wortung für jeden Bruch in der therapeutischen Beziehung aktiv übernimmt. Die meisten therapeutischen Brüche geschehen dadurch, dass es dem Therapeuten nicht gelingt, sich auf die affektive oder nonverbale Kommunikation der Klienten einzu-stimmen (Kohut, 1977). Wenn der Klient die Verantwortung für die Beziehung trägt, setzt er die Abwertung der Lösbarkeit fort und sein Schamgefühl wird verstärkt. Es kann notwendig sein, dass der Therapeut die volle Verantwortung dafür übernimmt, dass er die phänomenologischen Erfahrungen des Klienten nicht versteht, seinen Abwehrprozess nicht validiert oder nicht gut auf die Gefühle und Bedürfnisse des Klienten eingestimmt ist.

Verfügbarkeit ist die therapeutische Mitwirkung, die als Kontrapunkt gegen die Ab-wertung des Selbstwerts eines Individuums dient. Die therapeutische Präsenz wird durch fortgesetzte empathische Erfragung (Storolow, Brandschaft & Atwood, 1987) und folgerichtige Einstimmung auf den Entwicklungsstand der Gefühle und Bedürf-nisse zur Verfügung gestellt. Verfügbarkeit beinhaltet die Achtsamkeit und Geduld des Therapeuten. Sie zeigt, dass der Therapeut verantwortlich, zuverlässig und glaub-würdig ist. Therapeutische Präsenz tritt ein, wenn das Verhalten und die Kommuni-kation des Therapeuten zu jeder Zeit den Wert des Klienten achten und steigern. Die Verfügbarkeit erhöht sich durch die Bereitschaft des Therapeuten, sich von den Gefühlen und phänomenologischen Erfahrungen des Klienten beeinflussen zu lassen, also die Erlebnisse des Klienten ernst zu nehmen. Das ist mehr als Kommunikation, das ist Verbundenheit – voller zwischenmenschlicher Kontakt.

Die Mitwirkung des Therapeuten durch Transaktionen, welche die Erfahrungen des Klienten anerkennen, bestätigen und normalisieren, ist das Gegenmittel gegen die Toxizität der Abwertung von Existenz, Bedeutsamkeit und Verantwortlichkeit für die Lösung von Kontaktunterbrechungen in Beziehungen. Die verlässliche, eingestimmte Verfügbarkeit des Therapeuten ist das Gegenmittel gegen die Herabsetzung des Wertes eines Individuums (Bergmann, 1991; Jordan, 1989; Miller, 1987; Surrey, 1985).

Die wirksame Psychotherapie von Scham und Selbstgerechtigkeit erfordert das Ein-lassen des Therapeuten auf eine kontaktvolle Beziehung, Geduld und das Verständ-nis, dass eine solche Therapie komplex ist und eine beträchtliche Menge an Zeit erfordert. Erfragung, Einstimmung und Engagement sind allesamt Geisteshaltungen, eine bestimmte Art, in Beziehung zu sein und auch therapeutische Fertigkeiten. Wenn sie im Einklang mit dem Entwicklungsstand des Klienten verwendet werden, sind es Methoden, um eine fürsorgliche, verständnisvolle Beziehung anzubieten, die dem Klienten erlaubt, sein Selbstwertgefühlt auszudrücken, das vorher vielleicht nie ausge-drückt wurde. Erfragung, Einstimmung und Engagement sind Beschreibungen für respektvolle Interaktionen, die den Kontaktaufbau in Beziehungen fördern. Durch eine kontakt-orientierte, beziehungsfokussierte Psychotherapie können die abwehrenden Dynamiken von Scham und Selbstgerechtigkeit offengelegt und aufgelöst werden. Ein gestalttherapeutischer Fokus auf kontaktvolle Beziehungen verbessert die Fähigkeit eines Individuums zu vollständigem internen und externen Kontakt.

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[1] Anm. d. Übers.: Es-, Ich- und Persönlichkeitsfunktion sind die Selbstfunktionen der Gestalttherapie (Müller, 1993): Es-Funktion = was ich brauche, Ich-Funktion = was ich als nächstes will oder nicht will, Persönlichkeits-funktion = was ich bin oder nicht bin. Ein Verlust oder eine Störung der Selbstfunktionen ist der Auslöser psychischen Leidens.

[2] […] = erklärende Anmerkungen der Übersetzerin

[3] Anm. d. Übers.: Die Gestalttherapie benennt 4 Kontaktphasen, die zusammen einen Kontaktzyklus bilden: Vorkontakt, Kontaktanbahnung, Kontaktvollzug und Nachkontakt. Vorkontakt: Ein Bedürfnis entsteht, ein vages Empfinden, eine unbestimmte Erregung zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Eine offene Gestalt beginnt, sich bemerkbar zu machen (Quelle: blog_gestalttherapie_luebeck, Online: https://gestalttherapieluebeck. wordpress.com/2013/11/14/gestalttherapie-kontaktphasen/ ).

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